Marie Curie ist aufgrund Ihrer großen Entdeckungen in der Atomphysik vielen bekannt, doch kennt Ihr auch Chien-Shiung Wu? Nur Expert:innen auf dem Gebiet der Physik ist dieser Name ein Begriff, dabei war Chien-Shiung eine bemerkenswerte Frau, der trotz ihres bedeutenden Einflusses angemessene Anerkennung verwehrt blieb.
Kindheit in China
Schon Chien-Shiungs Vater war ein Pionier seiner Zeit, denn dieser hatte in Taicang eine der ersten Schulen für Mädchen in China gegründet. Hier wurde auch die am 29. Mai 1912 in Liuhe, China geborene Chien-Shiung unterrichtet und schon früh zeigte sich ihr großes Interesse an Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern. Chien-Shiung Wu wurde sehr fortschrittlich erzogen und ihre Eltern unterstützen Chien-Shiungs naturwissenschaftliche Interessen. So schloss sie nach der Schule ein Physikstudium in China ab, bevor sie ein Stipendium für die Universität von Kalifornien in Berkeley erhielt, wo sie 1940 in experimenteller Physik promovierte. Ab 1943 forschte und lehrte Chien-Shiung Wu an der Columbia University in New York.

Die Entdeckung der Paritätsverletzung
Chien-Shiung Wus bedeutendstes Werk begann im Jahr 1956. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Tsung-Dao Lee beschäftigte sie sich mit der sogenannten Parität – ein fundamentales Konzept in der Physik. Die Parität bezeichnet in der Physik eine Symmetrieeigenschaft, die ein physikalisches System gegenüber einer räumlichen Spiegelung haben kann. Tsung Dao-Lee hatte gemeinsam mit dem Physiker Chen Ning Yang im selben Jahr die Theorie veröffentlicht, dass in der Elementarteilchenphysik eine Vertauschung von rechts und links einen Unterschied machen kann, d.h. bei einer räumlichen Spiegelung müssen Original und Spiegelbild nicht immer ununterscheidbar sein – die sogenannte Paritätsverletzung. Chien-Shiung konnte schließlich mit einem Experiment, bekannt als das “Wu-Experiment”, beweisen, dass die schwache Wechselwirkung – eine der vier Grundkräfte der Natur – die Parität verletzt und bestätigte damit Lees und Yangs These.
Lange Zeit war angenommen worden, dass die Naturgesetze bei dieser Spiegelung unverändert bleiben: das sog. Gesetz der Paritätserhaltung. Das Experiment von Wu ergab jedoch, dass Parität keine Symmetrie ist, und hatte damit bedeutende Konsequenzen für die Physik. Wu hatte bewiesen, dass Teilchen nicht immer symmetrisch sind. Während beispielsweise ein bestimmtes linkshändiges Teilchen normalerweise rechtshändig werden würde, bleibt es nun nach dieser Spiegelung linkshändig. Dadurch können Physiker heute einen objektiven Unterschied zwischen den Begriffen „links“ und „rechts“ machen.
Für die Entdeckung der Paritätsverletzung wurden Lee und Yang 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Chien-Shiung allerdings ging leer aus. Viele Fachleute waren der Meinung, dass Chien-Shiung Wu zu Unrecht nicht ausgezeichnet worden war. 2013 wurde diese Vernachlässigung in der Zeitschrift National Geographic als Beispiel von einer von sechs Wissenschaftlerinnen mit bahnbrechender Forschung genannt, die aufgrund von Sexismus in den Naturwissenschaften auf gebührende Anerkennung verzichten mussten.
Ein bedeutendes Lebenswerk
Chien-Shiung Wu ist vor allem für ihr Experiment auf dem Gebiet der Paritätsverletzung bekannt, sie war aber auch in vielen anderen Bereichen sehr aktiv. Sie beschäftigte sich mit Forschungen zur Kernspaltung und war 1943 am Manhattan-Projekt beteiligt, einem streng geheimen Programm zur Entwicklung der Atombombe. Hier konnte sie ihre Expertise zur Entwicklung von Verfahren zur Anreicherung von Uran beitragen. Die Arbeit für das Manhattan-Projekt legte den Grundstein für Chien-Shiungs spätere Karriere in der Atomphysik.
Auch gelang Chien-Shiung Wu der erste experimentelle Nachweis des Phänomens der Quantenverschränkung. Bei diesem besonderen Phänomen bleiben die Eigenschaften einiger Teilchen gewissermaßen verschränkt, auch wenn die Teilchen sich in großer Entfernung zueinander befinden. Obwohl ihre Beiträge bedeutend waren, blieb große Anerkennung oft aus. Erst 1976 erhielt sie als Würdigung für ihr inzwischen berühmtes Wu-Experiment den Wolf-Preis, der auch als Trostpreis für Wissenschaftler gilt, die keinen Nobelpreis erhalten haben. Der Nobelpreis blieb ihr aber Zeit ihres Lebens verwehrt.
Ein Erbe der Inspiration
Chien-Shiung Wu verstarb am 16. Februar 1997, doch ihr Lebenswerk hat die Fundamente der modernen Physik mitbegründet. Ihre Beiträge zur Paritätsverletzung haben das Verständnis der fundamentalen Kräfte im Universum vertieft und neue Wege für die Forschung eröffnet. Sie war nicht nur eine herausragende Wissenschaftlerin, sondern auch eine Pionierin für Frauen in der Physik. Ihre unbeirrte Hingabe an die Wissenschaft hat die Grenzen unseres Verständnisses erweitert und sollte als leuchtendes Beispiel für zukünftige Generationen dienen. Dank ihrer vielen Beiträge zur Wissenschaft gilt Wu auch als die „First Lady of Physics“ und wurde oft mit ihrer Vorgängerin Marie Curie verglichen. Wir finden, es ist an der Zeit, die vergessene Heldin der Physik aus dem Schatten zu holen und ihre wichtigen Beiträge angemessen zu würdigen. Wir sind inspiriert von der großen Physikerin Chien-Shiung Wu.
Autorin: Sonja Schärf